Kranke Bäume
"Gülle killt den Wald"


Von Jochen Bölsche

Noch vor einem Jahr wollte Agrarministerin Renate Künast den Wald gesund beten. Jetzt muss die Grüne einräumen, dass es vielen Forsten schlechter geht denn je. Für eine der Hauptursachen ist sie selber zuständig: Luftverschmutzung durch die Landwirtschaft.

Mittwochmorgen, Frühstücksfernsehen von ARD und ZDF. Gerade haben die Nachrichtenagenturen gemeldet: "Deutscher Wald krank wie nie." Die Moderatoren halten den SPIEGEL-Titel 47/1981 in die Kamera: "Saurer Regen - Der deutsche Wald stirbt".

Die Frage an den Studiogast Renate Künast liegt nahe: Hat die deutsche Politik 23 Jahre lang versagt? Neben all den vielen anderen Themen, "von BSE bis Hartz IV", räumt die Agrar- und Forstministerin ein, sei das Waldsterben in den letzten Jahren ein wenig in den Hintergrund getreten. Was die Grünen-Politikerin nicht sagt: Sie selber hat noch im vorigen Jahr kräftig dazu beigetragen.


Mit den Grünen in den Wald

Im Sommer 2003 hatte Künast frohgemut verkündet: "Wir haben den Trend umgekehrt. Der Wald wächst wieder gesünder. Unsere Wälder sind schöner geworden. Ich kann nur dringend empfehlen, am Sonntag einen Waldspaziergang zu unternehmen."

Künasts Optimismus war schon damals unbegründet. Ihr eigener Staatssekretär Gerald Thalheim hatte zuvor erklärt, trotz einer gewissen "Stabilisierung" des Kronenzustands könne "keine Entwarnung" gegeben werden: "In den Waldböden haben sich die Stoffeinträge von Jahrzehnten angesammelt, außerdem kommen trotz aller Emissionsminderungen täglich neue Einträge hinzu."

Wie zutreffend die Analyse des Staatssekretärs und wie verfehlt die Gesundbeterei der Ministerin damals war, offenbart der jüngste Waldzustandsbericht, den Künast am heutigen Mittwoch erst dem Kabinett und dann der Presse präsentierte. Mit nur noch 28 Prozent sei der Anteil der Bäume ohne sichtbare Schäden geringer denn je - ein "alarmierender Zustand".

Die zuvor schon durchgesickerten Ergebnisse kommentierte die Bonner Stiftung "Wald in Not" mit dem Schreckensruf, die Schäden bei den Laubbäumen lägen "zum Teil höher als vor 20 Jahren bei der ersten Erhebung des Waldzustandes".

Damals, Anfang der achtziger Jahre, hatte die Nation noch hochgradig alarmiert auf den Niedergang der Forste reagiert. Vor allem sterbende Tannen und Fichten in den Höhenlagen der Mittelgebirge zeigten: Die natürliche Pufferungskapazität der besonders empfindlichen Nadelbäme war dem damals ungebremsten Schwefeldioxid- und Stickoxid-Regen aus Kraftwerken und Kraftfahrzeugen nicht mehr gewachsen.

Die Vision eines flächendeckenden Waldsterbens veranlasste damals Aktivisten von Greenpeace Deutschland (gegründet 1980) und Robin Wood (gegründet 1982), vor den Augen von Millionen TV-Zuschauern die Dreck speienden Kraftwerksschlote zu besetzen. Und als sich herumsprach, dass die Baumgifte auch Menschen krank machen können, gingen sogar Mütter mit schwarz angemalten Kinderwagen auf die Straße: "Wenn der Wald stirbt, stirbt der Mensch."

Hysterie? Dass sich die Worst-Case-Szenarien nicht bewahrheiteten, war ausschließlich der raschen Reaktion der Regierenden zu verdanken.


Multi-Milliarden-Programm gegen Dreckschleudern

Unter dem Druck der Umweltbewegung, die damals ihre Blütezeit erlebte, beschlossen die Bonner Politiker in einem beispiellosen Kraftakt, die Dreckschleudern vor allem der Kraftwerke zu entschwefeln und sämtliche Neuwagen mit Katalysatoren ausstatten zu lassen.

Jahre später zeigte sich, dass der Multi-Milliarden-Aufwand gelohnt hatte: Die Emission von Schwefeldioxid, Hauptverursacher von saurem Regen und Wintersmog, sank binnen weniger als anderthalb Jahrzehnten um rund 40 Prozent. Der Ausstoß von Stickoxiden, ebenfalls verantwortlich für Baumschäden sowie für den Sommer-Smog, fiel bereits 1990 unter den Wert von 1975.

In der Reaktion des Gesetzgebers, die das Risiko eines flächenhaften Waldsterbens minderte, sah der Göttinger Professor Bernhard Ulrich, einer der ersten Mahner, eine beispiellose "Erfolgsgeschichte" des Umweltschutzes.


Umweltforscher entdecken ein "zweites Waldsterben"

Wieso aber geben die Waldschäden den Umweltschützern nun erneut Anlass zu großer Sorge? Schon in den neunziger Jahren haben zwei gegenläufige Trends die Szenerie verändert. Einerseits hat der Niedergang der DDR-Industrie, vor allem die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke, die Emission von Schwefeldioxid weiter verringert - gut für die Wälder.

Zum anderen aber bereitet der Ausstoß von Stickstoffverbindungen mehr und mehr Kopfzerbrechen: Die Schadstoffminderung durch die Einführung des Katalysators ist durch die Zunahme des Kraftverkehrs weitgehend aufgezehrt worden, zudem belasten Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft die Luft und Böden - schlecht für die Wälder.

Die Landwirte als Waldzerstörer? Schon 1994 - also zwölf Jahre nachdem "der SPIEGEL das Waldsterben entdeckt" hatte ("Allgemeine Forst Zeitung") - diskutierte die Fachwelt über ein "zweites Waldsterben", das die Schadsymptome des ersten überlagere und teilweise ablöse.

Während die klassischen schwefelhaltigen Rauchgase, die vor allem Nadelgehölze schädigten, dank Umweltschutz und deutscher Einheit reduziert worden waren, wirkte nun verstärkt eine Gruppe von Schadstoffen auf die Wälder ein, die vor allem Laubbäume erkranken lässt.

Hauptursache der zweiten Variante des Waldsterbens ist - neben Schadstoffen wie Kohlenwasserstoffen, Schwermetallen und Ozon - ein Element, das eigentlich ungiftig ist: Stickstoff.

Dass nicht nur Stickstoffverbindungen aus den Auspufftöpfen der Autos den Wald malträtieren, erschloss sich den Wissenschaftlern, als Baumschäden auch in Regionen mit unterdurchschnittlichem Autoverkehr auftraten. Seit rund zehn Jahren stimmt die Fachwelt darin überein, dass Stickstoff aus der Landwirtschaft erheblich zum Waldsterben beiträgt.

Denn dieser Stoff ist einerseits unverzichtbares Nährmittel für Felder und Wälder, Wiesen und Wasserlebewesen. Andererseits lässt Überdüngung mit Stickstoff ganze Ökosysteme, Gewässer wie Wälder, kippen.

Agrarbetriebe, also Künasts Klientel, greifen auf zweierlei Weise in die natürlichen Stickstoffkreisläufe ein:

- Kunstdünger aus Ammoniak, aus Luftstickstoff gewonnen, wird in gewaltigen Mengen zur Pflanzenmast eingesetzt; ein Großteil entweicht in die Atmosphäre.

- Kunstfutter für die Massentiermast - dessen Nährstoffe vom Vieh nur zu einem Drittel verwendet werden können - trägt dazu bei, dass in Deutschland mit tierischen Exkrementen und Darmgasen alljährlich hunderttausende Tonnen Ammoniak in die Umwelt geraten.


Bio-Äpfel gegen das Waldsterben?

Auch diese Gifte setzen den Wald ständigem Stress aus. Und sie reichern sich im Boden an, bis das Immunsystem der Bäume, etwa nach zu nassen oder zu heißen Sommern, versagt und die Baumruinen dem Borkenkäfer anheim fallen. "Der Boden hat ein jahrzehntelanges Gedächtnis", weiß auch Künast. "Einmal ist der Eimer voll", hatte schon vor Jahren der Brandenburger Ökosystemforscher Siegfried Anders gewarnt.

Umweltminister Jürgen Trittin, der weniger Rücksicht auf die Landwirtschaft nehmen muss als seine grüne Parteifreundin Künast, redet Klartext: "Gülle killt den Wald." Künast stellt am liebsten andere Faktoren in den Vordergrund - etwa die Notwendigkeit "schadstoffärmerer Autos" und "besser isolierender Baustoffe".

Eher beiläufig rät die Landwirtschaftsministerin, so auch bei ihrem Auftritt im Frühstücksfernsehen zum Thema Waldschäden, zum Verzehr von "Bio-Äpfeln": Die würden schließlich "ohne Stickstoffdüngung erzeugt".

© SPIEGEL ONLINE 2005