KRANKE BÄUME
Förster fürchten Rinderwinde


Von Jochen Bölsche

Nach der finsteren Bilanz über den Zustand der deutschen Wälder wächst der Druck auf Agrarministerin Renate Künast. Die Grünen-Politikerin müsse schnellstens gegen den Forstschädling Nummer eins vorgehen: die Luftverschmutzung durch die Landwirtschaft.

Freundliche Grüntöne schmücken das Titelbild des "Berichts über den Zustand des Waldes 2004", der all die unschönen Zahlen über den Niedergang der deutschen Forste enthält. Fast ein Vierteljahrhundert nach den ersten Warnungen vor einem drohenden Waldsterben, so meldete Agrarministerin Renate Künast, sei der Anteil der gesunden Bäume abermals um drei Prozentpunkte zurückgegangen und hat "mit 28 Prozent den auf Bundesebene bisher tiefsten Stand erreicht". Wie ist das möglich, wo doch die Grünen in der Forst- und Umweltpolitik seit Jahren den Ton angeben?

"Da sind Fragen berechtigt", erklärt die Ministerin Künast im Vorwort zum gestern veröffentlichten Waldzustandsbericht 2004 - um sogleich auf eine Reihe umweltpolitischer Erfolge hinzuweisen: Die Schadgaskonzentrationen in der Luft seien "erheblich reduziert", die Säureeinträge in die Waldböden "deutlich verringert" worden.

Warum dann aber der Schadensanstieg? Alles nur eine Folge trockener Sommer und erster Auswirkungen der "beginnenden Klimaveränderung"? Der deutsche Wald also gleichsam ein Opfer höherer Gewalt? Wer Genaues wissen will, muss sich durch viele Berichtsseiten hindurchfressen, die mysteriösen "atmogenen Stoffeinträgen" sowie diversen biologischen Feinden des Waldes gewidmet sind.


"Ammonium ist der wichtigste Säurebildner"

Erst auf Seite 37 folgen Details über einen höchst gewichtigen Faktor, der "pflanzentoxisch" wirkt und "akute Schäden z. B. an Nadeln und Blättern" verursacht: die Luftverunreinigung speziell durch Ammoniak aus der Agrarwirtschaft, dem Zuständigkeitsbereich der Renate Künast.

Während das einstige Waldgift Nummer eins, das Schwefeldioxid aus den Kraftwerk-Schornsteinen, seit 1990 um 89 Prozent reduziert werden konnte, haben sich "die Einträge von Stickstoffverbindungen in die Wälder", wie der Bericht einräumt, "dagegen weniger verändert". Auf Seite 39, sozusagen im Kleingedruckten, folgt - politisch hochbrisant - der Schlüsselsatz zum Verständnis des Waldniedergangs: "Stickstoff (v. a. Ammonium) ist inzwischen der wichtigste Säurebildner."

Die Ammoniumquellen ortet der Report auf dem flachen Land, wo Künasts Klientel lebt: "Insbesondere in ländlichen Regionen Bayerns und des nordwestdeutschen Tieflands tragen Ammoniumeinträge aus der Landwirtschaft maßgeblich zur Bodenversauerung und zur Eutrophierung der Waldökosysteme bei."

Ammoniumeinträge - so dramatisch die Folgen dieses Faktors für den Wald sind, so skurril, so bizarr mutet die Herkunft dieser Schadstoffe an: Vom Winde verwehter Kunstdünger, zum Himmel stinkende Rinderfürze, in Plätscherbäche rieselnde Hühnergülle - auf diese Arten gerät Ammoniak in Wasser, Boden und Luft.


Stickstoffdusche lässt Bäume ersticken

Zusammen mit all jenen Stickoxiden, die dem Auspuff entweichen, bilden die Agraremissionen eine gigantische Stickstoffdusche, unter der Bäume quasi ersticken können.

"Eine Kuh entlässt doppelt so viel Stickstoff in die Luft wie ein Auto ohne Katalysator", beschrieb der Waldschützer-Bund Robin Wood schon vor Jahren die Dimension des Problems. Während im Jahresschnitt nur noch gut acht Kilo Schwefel pro Hektar in Deutschland niedergehen, regnen noch immer 18 bis 20 Kilo Stickstoff herab. Es könnten auch mehr sein: Die "angewandte Methodik", räumt der Bericht ein, führe dazu, dass die Einträge von Stickstoffverbindungen "systematisch unterschätzt" werden.

Dass die Landwirtschaft der schlimmste aller Waldfeinde sei, hatte das Forschungsministerium schon in den neunziger Jahren in einem Hintergrundpapier festgehalten: Für die Ammoniakemission seien die Agrarbetriebe zu 85 Prozent verantwortlich, für die Stickoxidemission die Autofahrer jedoch nur zu 67 Prozent; der Rest entweiche anderen Quellen, etwa Schornsteinen.


Die Wälder leiden unterm "Nordsee-Syndrom"

Der deutsche Wald leide an einer Art "Nordsee-Syndrom", beschrieb der Freiburger Forstforscher Hans Mohr frühzeitig die Folgen der Übersättigung mit Stickstoff. So wie die küstennahen Meereszonen durch die Einleitung von Agrar- und Kommunalabwässern an Überdüngung krankten, gehe "auf Bäume und Böden heute viel mehr Stickstoff nieder, als der Wald verkraften kann".

Kaum eine Region bleibt verschont. "In einigen Gegenden Niedersachsens", stellte der Lüneburger Forstdirektor Peter Lex fest, "enthält die Luft heute so viel Stickstoff, wie die Bauern vor fünfzig Jahren auf ihre Felder streuten." In Süddeutschland machte Forscher Mohr schier unglaubliche Schadstoffmengen aus: "Ohne den Einfluss des Menschen geht auf einen Hektar Wald weniger als ein Kilo Stickstoff pro Jahr nieder, im bayerischen Höglwald sind es heute schon 35-mal so viel."

Vor allem die Folgen massenhafter Masttierhaltung machen den Wäldern zu schaffen - nicht nur in unmittelbarer Nachbarschaft, sondern per Ferntransport des giftigen Stoffs durch die Lüfte auch anderswo. Denn die Blähungen von Weidevieh tragen nicht nur 20 Prozent zum weltweiten Ausstoß des hochwirksamen Treibhausgases Methan bei. Sie können gemeinsam mit Gülle "den Wald killen", wie Umweltminister Jürgen Trittin den Waldzustandsbericht kommentierte. Wissenschaft und Öffentlichkeit war das allerdings zunächst verborgen geblieben - aufgrund eines tückischen Bio-Mechanismus.

Zuerst nämlich wachsen, wenn es Stickstoff regnet, "die Wälder immer besser", wie der Forstwissenschaftler Siegfried Anders berichtet. Erst nach Jahren, sobald sich die Puffer- und Abwehrkräfte der Bäume erschöpft haben, "gewinnen die destruktiven Prozesse die Oberhand". Die zunächst rasch emporgeschossenen Bäume verlieren Nadeln und werden anfällig gegen Trockenheit und Schädlinge.

In Brandenburg etwa krepierte schon vor Jahren massenhaft die Kiefer. "Die Laubwälder halten zwar mehr aus", urteilte der Öko-Systemforscher Anders - aber "irgendwann" seien auch sie überfordert.

Dieser Zeitpunkt ist vielerorts spätestens in diesem Jahr erreicht worden. Mittlerweile trifft es auch die mythenumwobene Eiche, unter der die Germanen ihre heidnischen Götter verehrten und aus deren Ästen die keltischen Druiden ihre Zaubermisteln schnitten. Bei der Eiche, einst Symbol von Stärke und Ausdauer, ist der Anteil der Bäume mit Kronenverlichtungen nach dem aktuellen Künast-Bericht um weitere sechs Prozentpunkte auf 45 Prozent angestiegen.


Gesunde Buchen muss man suchen

Auf der Liste der aussterbenden Arten, hatte der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) schon vor Jahren geunkt, werde die deutsche Eiche bald "der Weißtanne Gesellschaft leisten". Und nicht nur die Eichen weichen - auch gesunde Buchen muss man suchen. Bei dieser Baumart vollzog sich dem Waldzustandsbericht zufolge die "stärkste Zunahme deutlicher Kronenverlichtungen". Der Anteil der geschädigten Bäume sei von 30 auf 55 Prozent gestiegen und habe sich damit nahezu verdoppelt.

Bereits vor zwölf Jahren, als sich erste Laubbaum-Schädigungen abzeichneten, hatte der BUND gefordert, "den nationalen Notstand auszurufen", wenn der Trend anhalte. Mittlerweile jedoch, so urteilte unlängst BUND-Geschäftsführer Gerhard Timm, scheine der Wald, anders als früher, Politikern aller Parteien nicht mehr am Herzen zu liegen. Auch im Hause der Grünen Künast würden die Waldschäden nur noch "verwaltet".

Dabei ist schon seit über einem Jahrzehnt bekannt, was geschieht, wenn Bauern auf ihren Äckern Jauche ausbringen: Bis zu 80 Prozent des darin enthaltenen Ammoniums verdampfen gleichsam und lösen, verstärkt durch Autoabgase, eine Serie fataler Kettenwirkungen aus. Schlimmste Folge: Der jahrmillionenlang funktionierende Giftschlucker und Wasserfilter Wald funktioniert nicht mehr. Er beginnt, die bislang herausgefilterten Schadstoffe in Form von Treibhausgasen und belastetem Trinkwasser wieder an die Umwelt abzugeben. "Da kommt dann aus dem Wald das gleiche raus wie aus dem Autoauspuff", sagte der Weihenstephaner Forstwissenschaftler Karl Kreutzer.


Der Teufelskreis der Ammoniakisierung

Die vielfältigen Folgen der allgegenwärtigen Ammoniakisierung sind kaum noch überschaubar. Die Übersättigung der Wälder mit Stickstoff, warnen Sachverständige seit Jahren,

- lässt auf Dauer immer mehr Bäume vergilben und schließlich eingehen, weil sie lebenswichtige Nährstoffe wie Kalium und Magnesium abstoßen müssen, um das ihnen verabreichte Ammoniak aufnehmen zu können;


- vernichtet durch Überdüngung all jene Lebensgemeinschaften von Tieren und Pflanzen, die als Hungerkünstler an nährstoffarme Standorte wie etwa Magerwiesen angepasst sind;

- hat dazu geführt, dass das Grundwasser unter Forsten vielerorts so viel giftiges Nitrat enthält, dass es bereits als Trinkwasser ungeeignet ist und bei Säuglingen tödliche Blausuchtanfälle auslösen würde;

- beschleunigt über Nitratanreicherung die Versauerung der Waldböden, so dass Schwermetalle und Aluminium freigesetzt werden, die ihrerseits Fischsterben in Flüssen und Seen auslösen können;

- bildet im Waldboden große Mengen Lachgas (Distickstoffmonoxid), ein hochwirksames, langlebiges Treibhausgas, das nicht nur zur Erwärmung der Erde beiträgt, sondern auch zum Abbau der lebenserhaltenden Ozonschicht - zwei Prozesse, die wiederum den Wald schädigen.


Eine Spirale ohne Ende? Umweltschützer halten es jedenfalls für unabdingbar, den Ausstoß von Stickoxiden einschließlich des Agrar-Ammoniaks drastisch zu reduzieren.


Der "Autokanzler" müsste umsteuern

Dazu müsste die Regierung Gerhard Schröders, der sich gern als "Autokanzler" titulieren lässt, allerdings verkehrspolitisch entschieden umsteuern. BUND-Geschäftsführer Timm appellierte bereits an Verkehrsminister Stolpe, nicht zuletzt dem Wald zuliebe Schadstoffausstoß und Verbrauch neuer Fahrzeuge weiter zu senken.

Auch die Agraremissionen ließen sich sehr wohl mindern, etwa durch streng überwachte Düngeverordnungen und eine Größenbegrenzung für Massentierhaltungen. Praktikable Lösungsansätze haben deutsche Tierhygieniker entwickelt: Für die Zukunft des deutschen Waldes wäre aus der Sicht dieser Zunft bereits einiges getan, wenn die Landwirte dazu übergingen, die Futtermittelgaben weiter zu optimieren, die Viehstallabluft besser zu filtern und ihre zum Himmel stinkenden so genannten Gülle-Lagunen sorgfältig abzudecken.


Moskau, Kyoto und der deutsche Wald

Richtig ist zweifellos auch Künasts Hinweis, der beginnende Klimawandel setze die Bäume zusätzlichem Stress aus und trage zu den Waldschäden bei. Und zutreffend ist auch ihre Bemerkung, schon der Verzehr von Öko-Obst und -Gemüse trage zur Verminderung des Düngemittelverbrauchs bei.

Weiter aber als bis zur Empfehlung, Bio-Äpfel zu kaufen, mochte die Politikerin - verständlicherweise - nicht gehen. Nur Radikalökologen empfehlen strikten Vegetarismus als Heilmittel gegen das Vegetationssterben durch Rinderfürze.

© SPIEGEL ONLINE 2005